
Kathrin Schwarzmann, Referentin für Arbeits- und Organisationspsychologie, Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik (BGHW)
Frau Schwarzmann, die Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik hat im Jahr 2022 eine breit angelegte Umfrage bei seinen Mitgliedsunternehmen (Einzelhandel, Großhandel, Logistik) zum Thema Gewalt durchgeführt. Wie wurde die Umfrage umgesetzt und mit welcher Intention?
Wir erhielten zunehmend Meldungen aus unseren Mitgliedsbetrieben, vor allem aus dem Einzelhandel, dass Mitarbeitende von betriebsexternen Personen angegangen werden – zum Beispiel von Kundinnen und Kunden oder Lieferanten. Dabei handelte es sich zum großen Teil um Beleidigungen, manchmal auch um Bedrohungen oder körperliche Übergriffe, etwa wenn jemand beim Einräumen von Regalen weggeschubst wurde. Um gute Prävention im Sinne von passgenauen Angeboten machen zu können, war es uns wichtig, genau hinzuschauen.
Gleichzeitig hatten wir aber keine validen Daten über die Art und Häufigkeit von gewalttätigen Ereignissen. Deshalb war es schwierig, konkrete Aussagen darüber zu machen, ob es sich um eine Zunahme handelt oder aber, ob aufgrund des allgemeinen öffentlichen Interesses in der letzten Zeit, die Sensibilisierung zugenommen hat. Wir wollten mit unserer Umfrage dieses Dunkelfeld beleuchten.
Die Umfrage wurde zwischen Juni und Ende November 2022 überwiegend direkt vom Aufsichtsdienst der BGHW durchgeführt, teilweise unter Zuhilfenahme von eigens dafür produzierten Werbepostkarten mit zum Fragebogen hinführendem QR-Code. Daneben bestand die Möglichkeit, die Fragen anonym im Internet zu beantworten. Die Auswertung übernahm das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) in Dresden. Insgesamt haben 2.786 Personen an der Befragung teilgenommen.
Welche Gewaltformen wurden (am häufigsten) gemeldet?
Wir hatten insgesamt 24 Fragen zu Ereignissen beziehungsweise Vorkommnissen im Zusammenhang mit betriebsexternen Personen gestellt. Diese reichten von ungeduldigem Verhalten, über Beleidigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen oder, im schlimmsten Fall, bewaffneten Raubüberfällen.
Ein großer Teil der befragten Personen gab an, mehrmals die Woche, einige sogar täglich, mit ungeduldigen oder gereizten, manchmal auch aggressiven Kundinnen oder Kunden zu tun zu haben. Auch Beleidigungen oder Bedrohungen waren nicht selten.
Auch wenn es meist bei verbalen Übergriffen ohne körperliche Gewalt bleibt, können diese nicht langfristig auch krank zum Beispiel depressiv machen oder eine „innere“ Kündigung bei den Beschäftigten auslösen?
Auch verbale Übergriffe können sehr verletzend sein. Langfristige gesundheitliche Folgen hängen natürlich von diversen Faktoren ab. Zum Beispiel davon, ob es im Unternehmen adäquate Unterstützung gibt, ob die Führungskräfte hinter ihren Mitarbeitenden stehen und sie vor Übergriffen schützen, und auch davon, wie das Betriebsklima ist. Persönliche Ressourcen spielen ebenfalls eine Rolle.
Welche branchenspezifischen Gewaltvorfälle sind typisch beziehungsweise häufig und welche besonders gravierenden branchenspezifischen Gewaltrisken, zum Beispiel Raubüberfälle, gibt es? Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Unsere Fragen bezogen sich ausschließlich auf Übergriffe von betriebsexternen Personen im Handel und in der Logistik. Branchenspezifische Unterschiede im Hinblick auf die Art der Übergriffe konnten wir mit unserer Befragung nicht feststellen. Von typischen Vorfällen zu sprechen, ist meines Erachtens bei diesem Thema auch schwierig. Das hört sich nach einer gewissen Normalität an, und die sollte eigentlich nicht angenommen werden.
Raubüberfälle sind besonders gravierend – zum Glück jedoch selten. Sie kommen längst nicht so häufig vor wie verbale Attacken, haben allerdings ganz andere Konsequenzen. Möglicherweise kann sich der eine oder die andere an den spektakulären Fall erinnern, bei dem vor ein paar Jahren ein Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein mit einer Schusswaffe ermordet wurde, nachdem er einen Kunden aufgefordert hatte eine Coronaschutzmaske zu tragen. Der Fall war tagelang in den Medien präsent und sorgte für große Bestürzung.
Es gibt auch Überfälle mit Waffengewalt, bei denen die Angestellten nicht körperlich verletzt wurden, aber aufgrund dieses Schockerlebnisses nicht mehr arbeiten können und therapeutische Hilfe benötigen.
In unserer Befragung haben wir allerdings den Fokus ganz bewusst auf die psychischen Gewaltereignisse wie Bedrohungen oder Beleidigungen gelegt. Denn diese werden in der öffentlichen Diskussion häufig nicht beachtet, etwa nach dem Motto: "So lange es zu keiner körperlichen Verletzung kommt, kann es auch nicht so schlimm gewesen sein." Da wollten wir etwas entgegensetzen und darauf aufmerksam machen, dass Menschen, die häufig verbalen Angriffen ausgesetzt sind, ebenso Verletzungen erleiden.
Gibt es Unterschiede in der Häufigkeit oder Form von Gewaltvorfällen zwischen Einzelhandel, Großhandel und Logistik? Falls ja, worauf führen Sie diese zurück?
Was die Häufigkeit von übergriffigen Verhaltensweisen von betriebsfremden Personen angeht, hatte der Einzelhandel die meisten Vorfälle von unangemessenem Kundenverhalten, Beleidigungen oder auch Bedrohungen. Denn der Einzelhandel hat es mit viel mehr wechselnder Kundschaft zu tun als der Großhandel. In Großhandelsunternehmen gibt es in der Regel wenig Laufkundschaft. Die Kunden sind bekannt, meist wird auf Rechnung bezahlt und es gibt langjährige Geschäftsbeziehungen. Das ist in der Logistik ähnlich und möglicherweise ein Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse.
Es ließen sich auch Unterschiede innerhalb des Einzelhandels ablesen, zum Beispiel spielten die Lage oder die Größe eines Betriebes eine Rolle. Lebensmittelgeschäfte in der Innenstadt von Großstädten haben viel wechselnde Kundschaft, in Wohngebieten kennt man sich eher, und das hat auch Auswirkungen auf das Verhalten.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage?
Für uns überraschend waren Ergebnisse, die darauf hinwiesen, dass viele Befragte gar nicht wussten ob beziehungsweise welche Präventionsmaßnahmen in ihrem Betrieb im Hinblick auf Gewaltereignisse bereits umgesetzt waren. Ebenso wussten viele gar nicht, ob der Betrieb eine entsprechende Gefährdungsbeurteilung angefertigt hatte. Das macht deutlich, dass es beim Thema Kommunikation und Transparenz noch Luft nach oben gibt und das ist für uns ein wichtiger Ansatzpunkt für unsere Präventionsmaßnahmen.
Gibt die Umfrage Learnings zum Thema Gewaltprävention her? Könnten sich Unternehmen, Führungskräfte oder auch Beschäftigte noch besser vorbereiten, um Gewaltvorfälle zu minimieren?
Für Unternehmen sollte der erste Schritt sein, das Thema in die Gefährdungsbeurteilung mitaufzunehmen. Hier werden Gefährdungen sichtbar und Betriebe können dann ihren Blick darauf richten, Schutzmaßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Bei der Umsetzung solcher Maßnahmen gilt, ebenso wie bei allen anderen Themen im Arbeitsschutz, das STOP-Prinzip: Substitution der Gefährdung vor technischen Maßnahmen, vor organisatorischen Maßnahmen, vor persönlichen Maßnahmen. Ich betone das deshalb so, weil oftmals davon ausgegangen wird, dass es reicht, die Mitarbeitenden zu einem Deeskalationsseminar zu schicken, also die Verantwortung allein den Mitarbeitenden zu übertragen. Genauso wichtig sind aber Maßnahmen wie zum Beispiel Wachdienste, Kameraüberwachung, gute Beleuchtung am Personaleingang und möglichst keine Alleinarbeit.
Wie unterstützt die BGHW ihre Mitgliedsunternehmen bei der Gewaltprävention oder auch bei der Nachsorge?
Auf unserer Internetseite finden unsere Mitgliedsbetriebe alle unsere Angebote zum Thema Gewaltprävention. Dazu gehören Beratungsangebote ebenso wie Qualifizierungsmaßnahmen und eine adäquate Nachsorge.
Es gibt zum Beispiel ein Seminar zum Umgang mit herausfordernden Kundensituationen sowie zum Thema Raubüberfälle. Unsere Qualifizierungsangebote richten sich ausschließlich an Multiplikatoren im Arbeitsschutz wie Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder Führungskräfte und selbstverständlich auch an Betriebsratsmitglieder. Auf diese Art und Weise haben wir mit unseren Präventionsangeboten eine viel größere Reichweite als wenn wir die Mitarbeitenden direkt qualifizieren würden. Darüber hinaus unterstützt die BGHW die Ausbildung betrieblicher psychologischer Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer mit einem Förderprogramm.
Sind Folgebefragungen zum Risko Gewalt geplant?
Ja, auf jeden Fall. Mit der aktuellen Befragung haben wir uns zunächst einen Überblick verschafft. Mit einer Folgebefragung können wir dann auch Aussagen darüber treffen, ob und in welchem Maße die Gewaltereignisse zunehmen oder ob es vielleicht auch eine Veränderung in der Art der Ereignisse gibt.
Hier finden Interessierte die Umfrageergebnisse der BGHW zum Thema Gewalt in Handel und Logistik sowie Unterstützungsangebote für Mitgliedsunternehmen und Beschäftigte: https://www.bghw.de/gegen-gewalt