IPA Journal 01/2024

DGUV-Expertengespräch zur „Begutachtung von Malignomen bei Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen (BK-Nr. 1103)“

Die Teilnehmenden des Expertengesprächs "Chrom" im IPA

Im Januar 2024 fand das DGUV-Expertengespräch zur „Begutachtung von Malignomen bei Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen (BK-Nr. 1103)“ mit Teilnehmenden aus der Wissenschaft sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Unfallversicherungsträger und der DGUV statt. Hintergrund waren offene Fragen sowohl im Bereich der arbeitstechnischen Ermittlungen und Sachbearbeitung der Unfallversicherungsträger als auch der arbeitsmedizinischen Begutachtung in Berufskrankheiten-Verfahren der Berufskrankheit (BK) Nr. 1103.

Begleitet durch das Moderatorenteam Prof. Thomas Brüning, IPA, Katrin Pitzke, IFA, und Dr. Simon Weidhaas, IPA, wurden im Expertengespräch am 15. und 16. Januar 2024 verschiedene Vorträge zu den bestehenden Herausforderungen präsentiert. Im Fokus standen die Exposition, die Begutachtung und die Epidemiologie. Zur Diskussion wurden anschließend im Plenum die bestehenden Probleme und mögliche Lösungsansätze gestellt.

Ausgangslage
Wie können Unfallversicherungsträger die Qualität von Verwaltungsverfahren bei Berufskrankheiten durch krebserzeugende Gefahrstoffe verbessern? Dieser Fragestellung widmen sich die Fach- und Expertengespräche, die die DGUV für diejenigen krebserzeugenden Gefahrstoffe durchführt, die eine besonders hohe Relevanz für die Unfallversicherungsträger haben. Katrin Pitzke erläuterte das Ziel, im Rahmen der Diskussion zur Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts die Vorgehensweise insbesondere im Bereich Gefahrstoffe und den zugehörigen Verwaltungsverfahren durch eine möglichst strukturierte und standardisierte Bewertungspraxis sowohl bei der Expositionsermittlung, bei der medizinischen Begutachtung als auch im Verwaltungsverfahren zu harmonisieren. Dies betrifft zum Beispiel jene Gefahrstoffe, für die kein festes Dosismaß (Stoffkonzentration mal Arbeitsjahre unter Exposition) ableitbar beziehungsweise festgelegt ist.

BK-Nr. 1103
Zu Beginn des Expertengesprächs führte Prof. Thomas Brüning aus, dass die BK-Nr. 1103 „Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen“ zu den sogenannten „offenen Berufskrankheiten“ gehört. Bei diesen wird zwar eine einwirkende Substanz, nicht jedoch eine bestimmte (Krebs-)Erkrankung beziehungsweise ein betroffenes Organ genannt. Als krebserzeugend sind sechswertige Chromverbindungen (Chrom (VI)) anzusehen, erklärte Brüning. In der Praxis seien Unfallversicherungsträger und medizinisch Begutachtende am häufigsten mit der Frage konfrontiert, ob eine Lungenkrebserkrankung wesentlich durch Exposition gegenüber Chrom (VI)-Verbindungen entstanden ist. Die krebserzeugende Wirkung ist gut belegt, doch müsse beurteilt werden, ab welcher Expositionshöhe von einer hinreichenden beruflichen Verursachungswahrscheinlichkeit – insbesondere bei Vorliegen außerberuflicher Risikofaktoren wie Tabakrauchen – ausgegangen werden kann. Noch schwieriger zu beantworten sei die Frage, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Krebserkrankungen des Kopf-/Hals-Bereichs als BK-Nr. 1103 anerkannt werden können. Im Anschluss ging Brüning auf die unter seiner Leitung bereits 2015 erschienene Publikation ein, bei der man dargelegt habe, dass es aufgrund der fehlenden Schwellendosis für Chrom (VI) schwierig ist, allgemeingültige Kriterien für die Anerkennungsfähigkeit von Lungenkrebs als Berufskrankheit zu formulieren. Unter Berücksichtigung der damals verfügbaren Daten wurde in dieser Publikation eine Anerkennung im Bereich einer kumulativen Dosis von etwa 500 μg/m³ Cr(VI) x Jahren (Chromat-Jahre) vorgeschlagen. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Wert um ein Orientierungsmaß handelt und explizit nicht um ein Abschneidekriterium, unterhalb dessen die Anerkennung nicht möglich sei. Abschließend führte Thomas Brüning aus, dass die Frage, ob im Einzelfall eine anerkennungsfähige Berufskrankheit vorliegt, demnach weiterhin unter Berücksichtigung von fallspezifischen, individuellen Merkmalen beantwortet werden muss.

Datenlage zu Chrom (VI) an Arbeitsplätzen
Die meisten bei den Unfallversicherungsträgern vorhandenen Messdaten zu Chrom (VI) in der Luft am Arbeitsplatz beziehen sich auf die einatembare Fraktion (E-Fraktion). Für die alveolengängige (A-) Fraktion, die bis in die tiefen Atemwege und die Lunge vordringen kann und daher hauptsächlich für die Entstehung von Lungenkrebs relevant ist, gibt es nur wenige Messdaten. Dr. Cornelia Wippich,IFA, stellte die Datenlage vor und beschäftigte sich mit der Frage, ob zwischen Messdaten aus der E-Fraktion und der A-Fraktion ein mathematischer Zusammenhang abgeleitet werden kann, mit dem man die Exposition gegenüber A-Staub umrechnen kann. Sie kam zu dem Schluss, dass einfache mathematische Umrechnungsfaktoren Messungen an den jeweiligen Arbeitsplätzen nicht ersetzen können, da das Verhältnis von A- zu E-Fraktion stark von der spezifischen Tätigkeit und den bearbeiteten Werkstoffen abhängt. Insbesondere für Chrom (VI) in der A-Fraktion wären mehr Messdaten wünschenswert.

Dr. Dorothea Koppisch, IFA, berichtete über die Messdaten zu Chrom(VI) aus der IFA-Expositionsdatenbank MEGA und stellte eine differenzierte Auswertung nach Tätigkeiten vor. Diese Daten werden in die aktuelle Überarbeitung des BK-Reports „Chrom und seine Verbindungen“ einfließen. Zu den Tätigkeiten mit hoher Chrom-(VI)-Belastung gehören unter anderem das Schweißen hochlegierter (Edel-)Stähle, das Entfernen chromathaltiger Beschichtungen oder die Aufbringung chromathaltiger Lacke.

BK-rechtliche Aspekte
Martin Forchert, BGHM, stellte BK-rechtliche Aspekte bei Krebserkrankungen ohne festes Dosismaß vor. Die gesetzliche Unfallversicherung ist leistungspflichtig, wenn ein Ursachenzusammenhang zwischen versicherter (betrieblicher) Einwirkung und Erkrankung besteht. Dies setzt voraus, dass die betriebliche Einwirkung eine „wesentliche Bedingung“ für die Entstehung der Erkrankung ist. Dazu müssen die „Verursachungsbeiträge“ oder „Mitwirkungsanteile“ von beruflicher Einwirkung und unversicherten Ursachen (bei Lungenkrebs zum Beispiel Tabakrauchen oder das allgemeine Lebensrisiko) aus medizinischer Sicht bestimmt werden. Maßstab ist laut einschlägiger Rechtsprechung die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“.

Überwiegt das unversicherte Risiko, ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung nur bei zusätzlichen Argumenten, wie etwa dem überadditiven Zusammenwirken, vernünftig zu begründen. Das Fehlen einschlägiger wissenschaftlicher Erkenntnisse könne dabei nur durch Konsens überbrückt werden.

Internationale Studien zur Lungen-Kanzerogenität von Chrom (VI)
Dr. Dirk Pallapies, IPA, gab einen Überblick über die wichtigsten epidemiologischen Studien mit quantitativen Daten zur Kanzerogenität von Chrom (VI)-Verbindungen. Die wesentlichen Studien beziehen sich auf zwei US-amerikanische Kohorten aus Baltimore und Painesville sowie auf die Kohorte der deutschen Chromatindustrie. Letztgenannte Studie stellte bereits 2015 die Basis für die Ableitung eines Orientierungsmaßes von 500 μg/m³ Cr(VI) x Jahre dar. Dieses Orientierungsmaß sollte im Hinblick auf neue epidemiologische Daten überprüft werden. Einschränkungen der Aussagekraft der US-amerikanischen Studien ergeben sich unter anderem aus den oft nur sehr kurzen beruflichen Chrom(VI)-Expositionen, unzureichenden Informationen zu früheren/nachfolgenden Tätigkeiten sowie aus einem hohen Raucheranteil mit unzureichender quantitativer Erfassung des Rauchverhaltens. Außerdem gab es Hinweise auf Schädigung des Nasenepithels bei Lungenkrebsfällen, die als Zeichen sehr hoher Cr(VI)-Expositionen gewertet werden können. Andere Abschätzungen kommen zu etwas höheren kumulativen Expositionen für eine Risikoverdopplung; nach den aktuell aussagefähigsten Daten aus einer Neu-Auswertung der Painesville-Kohorte sei eher von einem ca. zwei- bis dreimal so hohen Wert (also 1000 -1500 μg/m³ Cr(VI) x Jahre) auszugehen. Insgesamt sei ein Orientierungsmaß von 500 μg/m³ Cr(VI) x Jahre für eine Verdoppelung des Lungenkrebsrisikos durch berufliche Einwirkung aber weiterhin mit der Mehrzahl der Studien und den Schlussfolgerungen anderer Autoren gut vereinbar.

Methodische Herausforderungen
Die methodischen Herausforderungen bei der Ableitung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen aus publizierten Daten diskutierte Prof. Thomas Behrens, IPA. Er stellte dar, dass Ableitungen eines Orientierungsmaßes von zahlreichen Annahmen abhängig sind: So ist das ermittelte Orientierungsmaß davon abhängig, wie die Exposition in der Gruppe der Höchstexponierten harakterisiert wird und mit welchem Verlauf (als Gerade, logarithmisch oder nicht stetig) die Dosis-Wirkungs-Beziehung modelliert wird. Unsicherheiten in den Originaldaten wie mögliche Fehler in der Expositionsschätzung und eine hohe Variabilität in den Expositionskategorien sollten stärker berücksichtigt werden. Darüber hinaus kann es ohne Kenntnis der Originaldaten zu erheblichen Fehlschlüssen kommen. Wenn man anhand publizierter Daten, die in Expositionskategorien erfasst wurden, eine Ableitung des Verdopplungsrisikos vornimmt. Aktuelle epidemiologische Erkenntnisse sollten zudem zu einer Neubewertung der Evidenz führen.

Risikoverdopplung und Alter
Dr. Uta Ochmann, Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin am LMU-Klinikum in München, schlug vor, die individuelle Risikoverdopplung bezogen auf das altersspezifische Risiko zu betrachten. Sie präsentierte altersspezifische Lungenkrebsrisiken aus dem Krebsregister als Ausgangspunkt für die Berechnung des altersspezifischen Verdopplungsrisikos auf Basis der Toleranzkonzentration von 1 μg/m3, welche bei der kumulierten Exposition über 40 Jahre zu einem Lungenkarzinomrisiko von 0,4 % führt. Dabei komme man beispielsweise zu deutlich niedrigeren Verdopplungsdosen bei Versicherten, die in jüngeren Jahren an einem Lungenkarzinom erkranken. Hinsichtlich der Berücksichtigung eines im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung vorverlagerten Erkrankungsalters als Indiz für eine berufliche Verursachung wies sie dabei auf die publizierte und zwischen Experten abgestimmte Matrix zur Beurteilung des beruflichen Harnblasenkrebsrisikos nach Exposition gegenüber aromatischen Aminen hin. Die Matrix wurde vorgeschlagen, um den Zusammenhang zwischen einer individuellen beruflichen Exposition gegenüber aromatischen Aminen und dem Risiko für Harnblasenkrebs zu beurteilen. Hierbei wird beispielsweise neben dem Raucherstatus auch das Alter anhand standardisierter Kategorien berücksichtigt.

Anerkennungskriterien für weitere Malignome der Atemwege
Abschließend präsentierte PD Dr. Wolfgang Zschiesche,IPA, Überlegungen zu Anerkennungskriterien für weitere Malignome der Atemwege durch Einwirkung von Chrom (VI)-Verbindungen. Hierzu ist die epidemiologische Datenlage noch deutlich schwächer als für Lungenkrebs.Pathomechanistisch sei ein Kausalzusammenhang zwischen einer Chrom(VI)-Exposition und der Entwicklung von Malignomen aber auch für andere Teile der Atemwege (Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen sowie Kehlkopf) durchaus zu begründen. Im Bereich des Kehlkopfs kommen nach Auffassung von Wolfgang Zschiesche Malignome für die BK-Anerkennung infrage, die im Bereich der Atemstromseite liegen beziehungsweise von dort ihren Ausgang genommen haben. Aufgrund der eher nur kurzen Passage der Chrom(VI)-haltigen Partikel in den oberen Atemwegen sei deshalb eine Anerkennungsfähigkeit hier wahrscheinlich erst bei deutlich höheren kumulativen Chrom(VI)-Dosen als für Lungenkrebs gegeben. Eine epidemiologische Ableitung eines Orientierungsmaßes erscheine angesichts der diesbezüglich mangelhaften Datenlage beim Menschen zurzeit jedoch nicht möglich.

Diskussion und Fazit
In der anschließenden sehr zielführenden und konstruktiven Diskussion unter der Leitung von Katrin Pitzkeund Dr. Simon Weidhaas wurden bestehende Problemfelder und mögliche Lösungsansätze identifiziert. Unstrittig war unter den Teilnehmenden, dass es für Krebserkrankungen durch Chrom (VI)-Verbindungen im Sinne der Gleichbehandlung von Versicherten konsentierter Anerkennungskriterien bedarf. So wurde das Vorhaben formuliert, gemeinsam entsprechende Experten-konsentierte Kriterien zu erarbeiten und zu veröffentlichen.

Zu den konsentierten Kriterien gehören neben der kumulativen Expositionshöhe gegenüber Chrom (VI)-Verbindungen in der E-Fraktion das Rauchverhalten und das Erkrankungsalter. Zusätzlich zu den genannten sollten weitere Kriterien möglichst standardisiert in die Bewertung einfließen. Das können je nach Einzelfall berufliche Co-Expositionen, Latenzzeit, Brückenbefunde, Ergebnisse eines Human-Biomonitorings oder gegebenenfalls vorliegende Gewebeproben sein.

Die Einführung verschiedener Orientierungsbereiche bei der Kumulativ-Exposition, die als Argumente unterschiedlicher Wertigkeit für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen, soll der Weiterentwicklung und Präzisierung des Orientierungsmaßes dienen. Dabei findet das bisherige Orientierungsmaß von 500 μg/m³ x Jahre Chrom (VI)-Exposition Berücksichtigung.

Eine weitere Abstimmung unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur Präzisierung der Empfehlungen und der Darstellung in einer gemeinsamen Publikation ist geplant. Diese soll schließlich auch in der Handlungsempfehlung für Präventionsdienste und in der geplanten Überarbeitung des DGUV-BK-Reports „Chrom und seine Verbindungen“ Eingang finden.


Kontakt und Download

Die Autoren
Prof. Dr. Thomas Behrens
Prof. Dr. Thomas Brüning
Dr. Dirk Pallapies
Dr. Simon Weidhaas

Katrin Pitzke
IFA

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