Herr Prof. Dr. Gösling, Sie sind Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie in Braunschweig. Letztes Jahr hatten Sie ein brutales Gewalterlebnis in der Klinik. Sie wurden von einem Angehörigen ins Koma geprügelt. Der Angehörige wurde aggressiv, weil es aufgrund eines lebensbedrohlichen Notfalls zur Verzögerung einer Besprechung der Röntgenaufnahme kam und er nicht mehr warten wollte. Er beschimpfte und bedrohte Ihre Sekretärin. Sie versuchten ihn zu beruhigen. Trotz Ihrer Deeskalationsversuche schlug Sie der Mann dann nieder. Hat Sie dieser Vorfall verändert?

Ja, schon. Der Vorfall war schon dramatisch. Ich war bereits bewusstlos und der Mann schlug weiter auf meinen Kopf ein. Erst ein Mitarbeiter konnte ihn stoppen, bevor die Polizei eintraf. Ich bin dann im CT aufgewacht mit schwerer Gehirnerschütterung und Risswunden im Gesicht. Zum Glück habe ich keine nennenswerten bleibenden Schäden davongetragen. Doch das hätte sehr leicht auch anders ausgehen können. Auch psychisch habe ich das Ereignis gut verarbeitet. Ich bin ein „Stehauf-Typ“. Und vielleicht war es auch gut, dass ich nichts mehr mitbekommen habe. Doch ich denke schon, dass dieses Ereignis einen anderen Menschen auch hätte zerbrechen können. Es ist schon erschreckend, wie aggressiv dieser Täter war und nicht zu beschwichtigen. Sicherlich bin ich heute vorsichtiger und würde nicht mehr allein versuchen, solch aufgebrachte Menschen zu beruhigen.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Zunahme von Gewalt in den Klinken?

Es gibt auf jeden Fall mehr Konflikte und auch Gewaltvorfälle nehmen zu. Insbesondere in den Notaufnahmen ist das Konfliktpotential groß. Ungeduldige gestresste Patienten in Ausnahmesituationen treffen auf stark belastetes Personal. Da prallen oft falsche Erwartungshaltungen und die Realität aufeinander. Und die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Notaufnahmen häufig überfüllt sind und es zu langen Wartezeiten, Missverständnissen, Frust kommen kann. Einigen Menschen ist nicht klar, dass lebensbedrohliche und schwere Notfälle selbstverständlich immer zuerst behandelt werden. Oder Patienten kommen aus Unwissenheit mit gesundheitlichen Problemen, die absolut kein Notfall sind und mit denen sie normalerweise zum Arzt oder zur Ärztin gehen würden. Außerhalb der Sprechstunden kann man in diesen Fällen z.B. ärztliche Bereitschaftsdienste vor Ort oder die bundesweite Patientenservice-Telefonnummer 116 117 in Anspruch nehmen. Und dann gibt es noch einige Bürger und Bürgerinnen, die tatsächlich aus Bequemlichkeit in die Notaufnahme kommen, statt sich einen Arzttermin zu machen. Und das ist wirklich inakzeptabel.

Gibt es an Ihrer Klinik ein Gewaltpräventionskonzept?

Ja. Wir haben ein Deeskalationsmanagementteam im Klinikum und es gibt Präventionsmaßnahmen wie Trainings, die für alle Mitarbeitenden bei Interesse zugänglich sind. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden dazu sind sehr gut – dank praxisnaher Tipps zur Gewaltvorbeugung und wertvoller Handlungshinweise für den Ernstfall. Zurzeit sind wir auch mit der Polizei im Gespräch über weitere technische Maßnahmen für mehr Sicherheit.

Fühlen Sie sich als Chefarzt auch persönlich dafür verantwortlich, ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen?

Das ist ein wichtiges Anliegen. Gewalt im Krankenhaus sollte absolut tabu sein und bei uns gibt es „Null Toleranz bei Gewalt“. Deshalb unterstütze ich auch die Kampagne #GewaltAngehen und versuche damit, mich für Gewaltfreiheit und ein respektvolles Miteinander einzusetzen und dazu aufzurufen jeden Gewaltvorfall zu melden bzw. anzuzeigen.

Was sollte die Politik tun, um Ihren Arbeitsalltag sicherer zu machen?

Die Kliniken sind überlastet, personell unterbesetzt und unterfinanziert. Das führt zwangsläufig zu mehr Konflikten und diese Situation muss dringend grundsätzlich verbessert werden. Sonst verschärft sich das Problem noch weiter. Und dann werden noch mehr Menschen ihren Beruf wechseln oder junge Leute erst gar keine Ausbildung im medizinischen oder pflegerischen Bereich mehr anstreben. Außerdem wünsche ich mir, dass die Politik im Hinblick auf die alarmierende Steigerung der Gewalttaten auch in Form von Zuschüssen unterstützt. Bisher müssen Kliniken jedoch die kompletten Kosten für Antigewaltmaßnahmen selbst tragen.

Was kann jede und jeder Einzelne gegen Gewalt tun?

In der Klinik muss gelten, was überall richtig ist. Also ein respektvoller Umgang miteinander. Jeder Mensch sollte auf andere Menschen achten und sich kümmern. Wer merkt, dass sich ein Konflikt hochschaukelt, sollte – falls möglich – unter Wahrung des Eigenschutzes eingreifen und Hilfe holen.

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