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Bologna zerstört unsere akademische Bildung

Haben sie noch genug Zeit für das forschende Lernen? Je schneller, desto besser – mit diesem Prinzip sind auch die Studenten der Juristenfakultät der Universität Leipzig konfrontiert Haben sie noch genug Zeit für das forschende Lernen? Je schneller, desto besser – mit diesem Prinzip sind auch die Studenten der Juristenfakultät der Universität Leipzig konfrontiert
Haben sie noch genug Zeit für das forschende Lernen? Je schneller, desto besser – mit diesem Prinzip sind auch die Studenten der Juristenfakultät der Universität Leipzig konfrontie...rt
Quelle: picture alliance / dpa/woi lre
Die Erkenntnissuche war gestern. Heute geht es an deutschen Universitäten eher um den Kompetenzerwerb. Die Hochschulen drohen zu Berufsschulen zu werden und bringen das duale System zum Kollaps.

„Der Forschung – Der Lehre – Der Bildung“, diese Widmung haben die Gründer der Universität Hamburg vor fast hundert Jahren auf das Portal des Hauptgebäudes schreiben lassen. Sie wussten, was die Aufgabe einer Universität ist.

Entspricht das, was heute unter den Zielen von Forschung, Lehre und Bildung im deutschen Hochschulwesen „nach Bologna“ geschieht, überhaupt noch dem Verständnis einer akademischen Einrichtung, die nichts anderem verpflichtet ist als der Aufklärung in einer demokratischen Weltgesellschaft? Skepsis ist angebracht.

In dem Maße, in dem akademische Lehre in der Bologna-Folge nicht mehr als forschendes Lernen konzipiert wird, sondern als berufliche Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, droht hochschulische Forschung, vor allem in den Naturwissenschaften, wo es um teure Großforschung geht, aus den Hochschulen entfernt zu werden.

Die Forschung wird von den Anträgen abhängig

Wenn Forschung und Forschungsinfrastruktur für die akademische Bildung gar nicht mehr gebraucht werden, wird weiter ein großer Teil der Grundlagenforschung in den bekannten außeruniversitären Forschungseinrichtungen stattfinden.

Hochschulische Forschung ist heute abhängig von Projekten, für deren Durchführung Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen die erforderlichen Arbeitsmittel und Gelder allererst beantragen müssen.

Die Wahrnehmung der vornehmsten Aufgabe der Hochschulen in der Forschung ist also nicht mehr staatlich grundgesichert, sondern abhängig von der Antragsbereitschaft der Wissenschaftler und von dem produktorientierten Interesse solcher Unternehmen, die kleinere Forschungsaufgaben als Auftragsarbeiten in Hochschulen verlagern.

Von der Bildung zur Berufsbildung

Durch die Abschaffung des klassischen einphasigen Studiums, das in Deutschland und anderen kontinentaleuropäischen Ländern mit einem Diplom, Lizenziat, Magister oder einem Staatsexamen endete, sowie durch ein zweiphasiges Bachelor-Master-System nach angloamerikanischem Vorbild wurde der Bildungsauftrag der Universität und damit das kontinentaleuropäische Konzept zerstört.

Dieses bestand darin, der nachwachsenden akademischen Generation eine wissenschaftliche Aufklärungs- und Erkenntniserfahrung zu ermöglichen, damit Wissen an die Stelle von Glauben und Wahrheit an die Stelle von Meinung, Offenbarung und Indoktrination trete.

Die Kontinentaleuropäer, allen voran Deutschland, haben sich von den Vertretern des britischen Konzepts der Bildung im tertiären Bereich über den Tisch ziehen lassen. Während in Deutschland Ausbildung und Bildung der nachwachsenden Generation auf der einen Seite in einem dualen Berufsausbildungssystem und auf der anderen Seite in Hochschulen stattfand, war und ist Berufsausbildung im atlantischen System eine Aufgabe von Hochschulen, von „Colleges“ und „Universities“.

Ein einheitlicher europäischer Hochschulraum

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Das deutsche Erfolgsmodell der dualen Ausbildung, die Jugendarbeitslosigkeit verhindert, existiert in Großbritannien nicht. Die deutschen Hochschulen sind aber weder von ihrem Umfang noch von ihrem wissenschaftlichen Auftrag geeignet, eine Berufsausbildung für Kindergärtnerinnen, Physiotherapeuten und Apothekenhelferinnen anzubieten, und es ist auch nicht ihre Aufgabe.

Diese Entwicklung konnte im Europasuff der frühen Jahre mühelos mit dem Argument legitimiert werden, dass ein einheitlicher europäischer Hochschulraum entstünde, innerhalb dessen Studierende zwischen Gibraltar und dem Nordkap mühelos hin und her wechseln könnten und gleichzeitig einen freien Zugang zu allen Berufen haben würden.

Es hat sich herausgestellt, dass diese erwartete Mobilität nicht eingetreten ist. Für solche Art an sich begrüßenswerten Bildungsaustausch ist schlicht keine Zeit. Dieses auch deshalb nicht, weil unter dem Europäisierungsdruck Curricula und Formate des Unterrichts in einem hohen Maße standardisiert worden sind.

Kompetenzakkumulation statt Entwicklung

Kurzum: Die deutschen Hochschulen drohen zu Berufsschulen zu werden, das duale System zum Kollaps zu bringen und der bedauernswerten nachwachsenden Generation zu suggerieren, dass ihre Einkommensaussichten nach dem Besuch einer Hochschule besser seien als nach einer Ausbildung im dualen System beziehungsweise im System der Vollzeitberufsschulen.

Die Standardisierung im europäischen Hochschulraum bringt es mit sich, dass man eine Art „Währung“ für Lehrinhalte benötigt. Damit Lehrangebote und -erfolge vergleichbar sind, müssen sie messbar sein. Messbar sind, bildungswissenschaftlich gesehen, aber nur Wissensakkumulation und Kompetenzerwerb, also Berufsausbildung.

Die pragmatistischen Ideen des britischen Systems obsiegten. Die Deutschen legten noch eins drauf: Durch die unangemessene Übersetzung des Begriffs „employability“ als Ausbildungsziel in der Lissabon-Deklaration mit „berufsqualifizierender Abschluss“ nötigten sie die deutschen Hochschulen im schlimmsten Fall zum Angebot von „akademisierten“ Banalitäten oder im besseren Fall zum Etikettenschwindel: Sicher kann man das Studium mit unterschiedlichen Theorien der Thomas-Mann-Rezeption auch als „berufsqualifizierend“ für Buchhandelsgehilfen ausgeben.

Der fachliche Etikettenschwindel

Aber: Mit akademischer Bildung hat das alles nichts zu tun. Deren Idee bestand, in Kontinentaleuropa, nämlich darin, jungen Menschen durch eine Beteiligung an Erkenntnisprozessen, durch forschendes Lernen, durch Selbstdisziplin der Erkenntnissuche, durch Methodenstrenge, durch „Einsamkeit und Freiheit“ ein Angebot zur Persönlichkeitsbildung zu machen. Deren Fehlen wird nun aber bei den ersten Bachelorgenerationen durch die Abnehmer bereits moniert.

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Was tun? – Solange der Euro bleibt, bleibt auch Bologna. Also bleibt nur die List oder die Subversion. So gibt es europäische Länder, die Bologna unterschrieben haben, es aber nicht umsetzen. Andere Instrumente treten hinzu: der fachliche Etikettenschwindel, die liberale Auslegung von Anwesenheitserwartungen, die Erweiterung der Zahl von Prüfungswiederholungsmöglichkeiten und damit die Verlängerungsmöglichkeit des Studiums für junge Leute, die etwas längere Lernzeiten benötigen, die Aufnahme von Ethik, Philosophie und allgemeiner Bildung in ein „berufsbildendes“ Curriculum.

Kluge Hochschulleitungen handeln so. Sollte der Staat diesen Weg der Besinnung auf das akademische Proprium zu unterbinden versuchen, befinden wir uns im Widerstandsfall.

Soeben erschienen: Dieter Lenzen: Bildung statt Bologna. Ullstein, Berlin. 112 S., 9,99 €.

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